Aus Kindern werden Leute


1995
1995

Wer mich kennt, weiß dass ich facebook liebe und ausgiebig nutze. Unter anderem dafür, alte Kontakte wieder herzustellen und Menschen wieder zu treffen, die einst Begleiter auf meinen Wegen durch das Leben waren. In den allermeisten Fällen waren diese Wiedersehen wunderbar - und einige wenige waren unglaublich bewegend. So auch vorgestern, als eine 23-jährige mich besuchte, die ich auf den ersten Blick nicht wiedererkannt hätte. Als ich sie zuletzt sah, war sie nämlich drei oder vier Jahre alt. Sie hatte große blaue Augen über rosa Pausbäckchen, ein Lockenköpfchen und war ein Energiebündel vor dem Herrn.

 

Sie ist die Tochter meiner ehemaligen Nachbarn und ich war einst ihr Babysitter. Eine Aufgabe, die ich bis heute gern übernehme - bekommt man doch die tollsten Seiten mit, die Kinder so an sich haben, ohne selbst welche gebären zu müssen. Zuerst nahm ihr Vater über das soziale Netzwerk Kontakt zu mir auf. Ich schickte ihm ein altes Foto von mir und seiner Erstgeborenen, er gab es an seine Tochter weiter und dann, für mich völlig überraschend, hörte ich von ihr. Ich hatte nicht angenommen, dass ihrerseits Interesse an irgendeiner Frau besteht, die mal auf sie aufgepasst hat und an die sie sich nicht erinnern kann. Aber offenbar war sie von großer Neugier getrieben und recht bald darauf telefonierten wir. 

 

Diese Stimme und den Wortschatz einer gebildeten jungen Erwachsenen in Einklang mit diesem kleinen Mädchen zu bringen, fiel mir zunächst schwer. Sie hatte sich so entwickelt, wie es wünschenswert ist. Sie studiert und hat zugleich eine Berufsausbildung gemacht, ist glücklich in dem gewählten Job und scheinbar auch im privaten Leben. Außerdem ist sie pfiffig wie eh und je und wies schon am Telefon eine Schlagfertigkeit auf, wie ich sie liebe.

 

Dieses Gespräch weckte viele Erinnerungen in mir. Immerhin hatten wir eine so gute Bindung zueinander, wie ein Babysitter und ein Kind sie nur haben können. Wir mochten uns gegenseitig - das half natürlich. Ich konnte sie derart zum Lachen bringen, das ihr kleines Kichern sich mitunter zu einem atemlosen Kreischen aufbaute. Jeder kennt das banale Kuckuck-Spiel, bei dem man sein Gesicht hinter den Händen versteckt und dann plötzlich hinter seinen Fingern wieder hervorlugt. Wir haben das perfektioniert. Ich war hinter Sesseln, angelehnten Türen oder auf dem Balkon versteckt, sprang plötzlich in den Raum, rief Kuckuck - und die Kleine kugelte sich in höchster Belustigung auf dem Boden des Wohnzimmers. 

 

Überhaupt haben wir recht viel getobt - wenn ihre Eltern nicht dabei waren. Flugzeug spielen war hoch im Kurs. Je schneller wir uns im Kreis drehten, umso lauter schallte dieses entzückende Kinderlachen über den Donnerberg. Das war der Park in unserer Nachbarschaft. Mit der Wippe konnte ich meinen Schützling nicht anfreunden, aber die Rutsche war ein klarer Favorit. Ich erinnere mich daran, wie sie zum ersten Mal in meiner Gegenwart mit großem Stolz die Leiter selbst hinaufkletterte und sich nicht mehr helfen lassen wollte. Heimlich stand ich aber doch hinter ihr und musste einen kleinen Spurt hinlegen, um sie am Ende der Rutsche sicher wieder aufzufangen.

 

Sie war ein kuscheliges Kind, und ich weiß noch, wie sie oft warm und klein in meiner Armbeuge lag, während ich ihr aus meinem mitgebrachten Exemplar von "Pippi Langstrumpf" vorlas. Im Grunde war sie für diese Lektüre zu jung, aber ich hoffte trotzdem, dass das Bild des starken Mädchens sich irgendwo in ihrem Kopf speichern würde. Aus demselben Grund habe ich ihr auf Spaziergängen immer etwas gezielt vorher ausgesuchtes gezeigt und es ihr erklärt, während sie mich mit großen Augen ansah und immerhin ab und zu andächtig nickte. Irgendwas an Information würde schon hängenbleiben, nahm ich an. Und besser als das übliche Dutzidutzidu, das Erwachsene oft für Kleinkinder übrig haben, war es allemal.

 

Was übrigens bei ihr nicht funktioniert hat, war das Singen eines Gute-Nacht-Liedes. Das mag aber sehr wohl an meinen nicht vorhandenen Sangeskünsten gelegen habe, die ich damals für existent hielt. Während ich ihr "Der Mond ist aufgegangen" vorplärrte, ist sie jedenfalls nie eingeschlafen. Manchmal war das einzige, das beruhigend wirkte, mich neben das Kinderbett auf den Boden zu legen, während sie mit ihrer winzigen Hand einen meiner Finger festhielt. Dann schlummerte sie recht schnell weg.

 

Der Kontakt mit der Familie verlief im Sande, nachdem ich meine erste eigene Wohnung bezogen hatte und die Menschen aus der alten Nachbarschaft nur noch zufällig sah, wenn ich bei meinen Eltern war. Und so gingen gut zwanzig Jahre ins Land - und nun kündigte die "Kleine" ihren Besuch an. Es wäre gelogen, zu behaupten, ich sei nicht aufgeregt gewesen. Wiedersehen zerren irgendwie immer an den Nerven, sogar dann, wenn sie erwünscht sind. Als sie schließlich die Treppe hoch kam, schien sie einen kurzen Moment lang wie ein anderer Mensch. Der Zeitsprung war immens. Die Pausbacken sind nun nicht mehr da, die großen Augen verbergen sich inzwischen hinter einer Brille. Dieses Gefühl von Fremdeln hielt aber nicht lang an. 

 

In ihrem Lächeln tauchte es nämlich wieder auf, das kleine Mädchen von damals, in das ich so vernarrt gewesen war und das meine Beine umarmt hatte, wenn ich zur Tür herein kam. Im Laufe dieses Tages präsentierte sich mir ein gewitzter und kluger Mensch. Eine junge Frau mit einem großen Herzen, hohen Idealen und echter Neugier auf das Leben und die Welt, mit ausgeprägtem Fernweh, mit Humor und ironischer Schlagfertigkeit. Eine Erwachsene mit dem Werkzeug für eine gute Zukunft in den Händen, die die Schar der Beschützer nicht mehr braucht, die ein Kind bestenfalls hat. Ich bin sehr beeindruckt und - ohne wirklich ein Recht darauf zu haben - sehr stolz auf die "Kleine". 


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