Die alte Dame und der See


Teilansicht der Signora
Teilansicht der Signora

Eigentlich möchte ich die Geschichten aus meinem bald erscheinenden Buch über den Lago Maggiore nicht vorab erzählen, man soll ja nichts vorwegnehmen. Aber diese eine, die ließ mich nie mehr los. Jedes Mal, wenn ich mich bei Sonnenuntergang irgendwo am Ufer des Sees befinde, denke ich an diese Begegnung zurück und lausche. Ihr werdet bald verstehen, warum das so ist. Ich kann nämlich nicht abwarten, davon zu erzählen. Ich könnte ja vor der Publikation versehentlich vor einen Bus laufen - und dann bekämt Ihr nie von der eindrucksvollsten aller meiner zufälligen Zusammenkünfte mit Einheimischen am See zu hören. Das wäre zu schade.

 

Ich muss die Bemerkung mit dem Bus kurz erklären, glaube ich. Mein Leben ist bestimmt von dem Gedanken, dass ich morgen bereits tot sein könnte. Ich habe ein paar Mal gesehen, wie schnell das gehen kann und dass Alter dabei keine Rolle spielt. Deswegen bin ich so getrieben, mir um beinahe jeden Preis und ohne Rücksicht auf die meisten Konsequenzen meine Wünsche zu erfüllen. Deshalb gehe ich oft so stur nach meiner eigenen Nase und mache an den meisten Tagen das, was mir selbst wichtig ist - auch wenn ich dabei egozentrisch wirke. Ich will nicht morgen sterben und heute nur Dinge getan oder mich mit Leuten umgeben haben, die mir nichts mit den Weg gaben. Und die Episode, die ich deswegen so unbedingt loswerden muss, hat mir auf ihre Weise gezeigt, wie wertvoll das Leben eines Einzelnen ist. Nicht nur für ihn selbst, sondern auch für diejenigen, die an ihn gebunden sind. Es ist die Geschichte zweier immerwährenden Lieben und sie gehört einer alten Dame.

 

Zunächst habe ich die Signora nur gehört. Ich ging in den golden Resten des Tageslichtes die Uferpromenade von Baveno entlang und genoss die erste leichte Brise eines sehr heißen Tages. An Ende des Gehwegs, gegenüber des Eingangs zum Park der Villa Branca, befindet sich ein kleiner Bootshafen. Hinter dessen Kaimauern ist noch ein Strand, den man aber von hier nicht einsehen kann und von dessen Existenz ich noch nichts wusste. So schien für mich die zarte Stimme, die ich vernahm, aus einem der Boote zu klingen. Eine Frau sang eine melancholische Weise, die der Wind zu mir herüber trug. Niemand außer mir schien das wahr zu nehmen, alle hatten es eilig, in die Stadt oder an die Fähranlegestelle zu kommen. Ich aber setzte mich auf die nächste Bank und hörte ihr zu. Ich war wie hypnotisiert und hatte wie so oft am See das Gefühl, in einem Moment zu schweben, in dem die Zeit für mich kurz einfach stehenbleibt, während der Rest der Welt weiterhin in Bewegung ist.

 

Der Gesang verstummte viel zu schnell und kurz darauf erschien die Silhouette einer alten Dame auf der Treppe der Kaimauer. Sie stieg herunter und setzte sich ebenfalls auf die Bank. Wie man das in Italien so macht, wenn man nahe beieinander sitzt, begann sie ein Gespräch mit mir. Und zum Glück verstand ich bereits genug ihrer Sprache, um ihr folgen zu können. Nach dem ersten höflichen Geplänkel erzählte sie, sie sei 93 Jahre alt, ihr Ehemann zehn Jahre älter und noch gesund und voller Kraft. Sie selbst wirkte übrigens um einiges jünger als angegeben. Jeden Morgen seit Ihrer Heirat vor siebzig Jahren bringe der Mann ihr einen Kaffee und eine Rose. Er brach nicht ein Mal mit dieser Tradition, betonte sie. Die Signora schaute auf ihre Schuhe und war einen Moment still. Dann sprach sie weiter. "Er tat das auch in der schwersten Zeit, die wir je durchmachen mussten. Jeden Tag. Dass er daran festhielt, als alles andere zerbrach, rettete mein Leben."

 

Ich schluckte den heiteren Kommentar zur Romantik des Ehemanns, den ich mir mühevoll auf italienisch im Kopf zurechtgelegt hatte, herunter und wartete. Sie hatte einen Sohn, sagte sie, als sie den Blick auf die Wasseroberfläche hob. Er war 23 als er zum Fischen hinaus fuhr und nie zurückkehrte. In den nächsten Wochen fand man hier und da Teile seines Bootes, er selbst aber blieb in der Tiefe des Sees verschwunden. Und mit dem geliebten Sohn ging für die Signora die Welt unter. Ihr Mann habe ebenfalls furchtbar unter der Trauer gelitten, sagte sie. Aber er habe von Anfang auch begriffen, dass das eigene Leben nicht damit enden darf. Er brauchte allerdings seine tägliche Gewohnheit, um damit fertig zu werden - und wie sich herausstellte, brauchte sie die auch.

 

Er habe ihr etwas gegeben, um sich daran festzuklammern, als sich der Boden unter ihren Füßen auftat und sie damit zu sich über den Abgrund gezogen. Ihren Worten zufolge liebten sie sich noch immer und hatten es geschafft, trotz allem ein gutes Leben zu führen. Sie erzählte, als sie sich stark genug fühlte, ging sie eines späten Nachmittags hinunter ans Ufer und brüllte ihre Wut in die Brandung. Aber dann habe sie sich darauf besonnen, dass ihr Junge ja auch dort draußen sei. Weinend habe sie ihm dort während der Dämmerung zwischen den Felsen sein Wiegenlied gesungen. Da sie nicht wusste, wo genau er ertrunken war, fuhr sie am nächsten Tag mit dem Bus einen Ort weiter, suchte sich einen geeigneten Platz und sang dort für ihn.

 

Inzwischen mache sie das seit beinahe 50 Jahren. Jeden Abend sei sie an einer anderen Stadt, horche nach seinen Grüßen in den Wellen und schenke ihm ein Schlaflied. Mit der Zeit sei es einfacher geworden, die Tränen blieben mit den Jahren aus. Als sie das sagte, waren ihre Augen trotzdem feucht, und mir lief längst das Wasser übers Gesicht. Sie schloss, es sei nun sowieso bald an der Zeit, ihm zu folgen. Sie freue sich darauf, ihren Sohn bald wieder in die Arme zu nehmen. Dann zwinkerte sie. "Bis dahin erfreue ich mich an meiner Rose und meinem Kaffee."

 

Ich war vom eben Gehörten sehr bewegt und suchte noch nach einer Erwiderung, als sie mich fragte, ob ich in Baveno untergekommen sei oder das letzte Schiff nehmen müsse. Das musste ich und die Signora bestand darauf, mich sicher an Bord zu bringen. Auf dem Weg zur Anlegestelle unterhielten wir uns noch über dies und das, aber in Erinnerung blieb mir davon nichts. Zu tief war der Eindruck ihrer Geschichte und der tiefen Liebe, die daraus sprach. 

 

Sie verabschiedete mich mit einer langen Umarmung und vielen zauberhaften Worten. Wenn ich heute an Deck stehe und das Boot in Baveno ablegt, sehe ich sie noch vor meinem geistigen Auge wie damals dort winkend stehen. Und egal, an welchem Ort ich seitdem abends am Ufer stehe - ich lausche. Denn ich hoffe, der Wind trägt ihr melancholisches Lied noch einmal zu mir.



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