Wir lernen es nie


Schienenstrang
Schienenstrang

Eigentlich wollte ich heute gar nichts schreiben, aber ich bin so wütend, dass es einfach aus mir raus muss. Ich habe nämlich die Videos von Clausnitz gestern Abend gesehen, in denen eine Horde Neo-Nazis einen Bus voller Flüchtlinge bedrängt. Und in denen die Polizei Kinder aus eben jenem Bus zerrt und durch die grölende Menge in die Unterkunft trägt. Es ist so beschämend, so grausam, so schockierend. Und ich kann mich nicht mal in die naive Frage flüchten, warum die Dummheit international einfach nicht aussterben will. Ich ahne nämlich die Antwort. Wollten die Regierungen rund um die Welt gebildete Völker, die Gemeinsamkeiten zwischen den Menschen begreifen und fähig sind, aus der Geschichte zu lernen - dann hätten wir die. Die dumme Masse, die kaum ihre eigene Muttersprache beherrscht, ist kein Zufall. Wer das für eine Verschwörungstheorie hält, ist schon fein umwoben von den Weben des Idiotie-Netzes.

 

Erhebt Euch darüber - es ist leichter als Ihr denkt. Bildet Euch selbst. Zieht Euch so oft es geht aus dem Konsum-Kreis, der so viel Elend anrichtet, heraus. Seid freundlich und wendet Gewalt nur in Notwehr an. Drei simple Regeln, aus deren Befolgung Einsicht erwächst. 

 

Zur Bildung gehört unbedingt zu reisen. Nach unzähligen Erfahrungen mit Couchsurfing und Mitfahrzentralen braucht mir auch niemand mehr erzählen, dass er das nicht finanzieren kann. Ansprüche runterschrauben und los, mal was anderes sehen als die immer gleichen Gesichter. Wo immer Ihr landet, begebt Euch nicht schnurstracks dahin, wo Eure Landsleute sind. Sprecht mit den Einheimischen. Wenn Ihr klug wart, habt Ihr schon vorab ein paar Grundbegriffe in der Landessprache gelernt. Das reicht, um den Eindruck zu vermitteln, dass Ihr wirklich Interesse habt. Nutzt ein Wörterbuch, Hände und Füße und alles was Euer Hirn an Fremdsprachen hergibt, um die Konversation am Laufen zu halten. Malt notfalls Skizzen. Egal. Hauptsache ist, Ihr bekommt einen Eindruck von den Menschen. Und lernt so viel von ihnen wie nur irgendwie möglich. Beobachtet sie mit ihren Freunden und Familien. Ihr werdet schnell sehen, dass sie sich unter der Oberfläche von Glauben, Nationalität und Sprache gar nicht so furchtbar von Euch unterscheiden. Die meisten wollen das, was Ihr wollt: in Ruhe und friedlich mit ihren Lieben leben und ein Auskommen haben.

 

Ladet auch Leute zu Euch ein, füllt Euer Haus mit Menschen aus aller Herren Länder und mit allen möglichen Ansichten. Hört ihre Geschichten und zeigt Eure Traditionen. Seid offen und ehrlich, notfalls auch kritisch und eine hitzige Debatte riskierend. Habt nicht dieses Deckmäntelchen von falscher Toleranz - wo man ins Gesicht immer freundlich ist und dann hinterrücks Vorurteile verbreitet. Übt lieber die richtige - die gilt nämlich auch für Euch und Eure Meinung. Dann kann man in der anschließenden Diskussion eventuell Argumente verstehen und vielleicht wird am Ende sogar einer zum Umdenken bewegt und lockert seine eingerosteten Strukturen. Ihr werdet überrascht sein, wie oft Ihr selbst derjenige seid.

 

Nutzt das Internet. Lest Blogs von Leuten, die aus ihren Erfahrungen erzählen. Schreibt selber einen. Seht Euch Ted-Talks und Debatten an, Dokumentationen. Denkt über das nach, was Ihr seht und übernehmt nicht automatisch die Ansicht des sympathischsten oder rhetorisch gewandteren Redners. Überprüft die Informationen, die Ihr bekommt. Haltet Euch damit zurück, sie in die sozialen Medien hinaus zu schreien, bis Ihr wisst, wovon Ihr sprecht. Wenn Ihr Hörensagen weitergebt, macht explizit darauf aufmerksam.

 

Lest Bücher. Es gibt genug Lektüre, die sowohl unterhaltsam ist als auch Wissen transportiert. Lasst Euch nicht davon abschrecken, dass ein dicker Wälzer vor Euch liegt - wenn er gut ist, werdet Ihr kaum merken, wie viele Seiten Ihr lest. Literatur ist die Basis für die großartige Kinowelt, die so vielen so immens bedeutend erscheint. Nur verfliegt ihre Wirkung nicht so schnell. 

 

Wenn Ihr all das tut, wird Euch über kurz oder lang klar, wie gut es uns geht - egal wie schlecht Ihr Euch bis dahin gefühlt habt. Die meisten von uns hatten das Glück hier geboren zu sein und mehr oder weniger kuschlig aufzuwachsen. Natürlich gibt es auch bei uns Schicksale, die unerträglich sind. Für die Betroffenen wird es kein Trost sein, dass es in anderen Ländern mehr Menschen schlecht geht als hier. Bei uns aber ist niemand für fünf Euro die Woche damit beschäftigt, Kleidung für reiche Erste-Welt-Bewohner zu fertigen. Unsere Fünfjährigen arbeiten nicht in Ziegeleien. Wir ackern auch nicht mehr für einen Hungerlohn in Rohstoff-Minen. Und aus meiner Generation hat niemand erlebt, dass wir im eigenen Land bombardiert wurden.

 

Trotzdem gibt es hier die Depressiven und Ausgebrannten - und meine Theorie ist, dass dies diejenigen sind, die das sinnlose System durchschauen, aber nicht wagen auszubrechen. Man muss aber, weil man sonst an dem schlechten Gewissen erstickt. Uns geht es "gut" - will sagen, wir haben so viel überflüssige Auswahl - weil andere dafür leiden. 

 

Meiner Ansicht nach wird man nur einigermaßen damit fertig, wenn man da den Kreis durchschlägt, wo es geht. Ich habe meine stille Revolution damit gestartet, auf alle Kosmetika außer Zahnpasta, Seife und Shampoo zu verzichten. Ich glaube nicht, dass es da irgendetwas gibt, das nicht an Tieren getestet wird, dafür habe ich zu viel über Gesetzeslücken und Subunternehmen gelesen. Für die drei genannten Dinge habe ich halt keine Alternative zur Hand. Alles andere brauche ich für mich nicht.

 

Gleiches gilt für Auto und Smartphone. Ersteres ist verzichtbar, weil ich im Moment in einem Land lebe, das flach und gut mit dem Fahrrad zu überwinden ist und in dem außerdem der öffentliche Nahverkehr funktioniert. Wenn es doch mal das Auto sein muss, dass fahre ich eben mit der Mitfahrzentrale. Das Smartphone ist in meinen Augen zwar eine grandiose technische Neuerung, aber überflüssig wie ein Kropf. Die Gelder, die man in diese Entwicklung gesteckt hat, wären mal besser in die Aids- und Krebsforschung gegangen. Daran sterben wir nämlich immer noch - aber nun wenigstens tickernd. Mir persönlich reicht Internet und Telefon zu Hause - ein altes Handy besitze ich nur, weil meine Mutter sich an diese Technik so gewöhnt hat, dass sie augenblicklich Herzrhythmusstörungen bekommt, wenn sie mich nicht immer und überall erreichen kann. 

 

Seit etwa zehn Jahren habe ich keine neue Kleidung mehr gekauft. Stattdessen habe ich im Bekanntenkreis verlauten lassen, man möge mir bitte die beizeiten aussortierten Sachen geben. So ist mein Schrank brechend voll und ich kann an andere verteilen, was ich selbst nicht brauche. Auf die Art komme ich übrigens auch an Möbel und Haushaltsgeräte. Mein Glück ist, dass ich keinen gesteigerten Wert auf einen eigenen Stil bezüglich dieser Dinge lege. Das hebe ich mir lieber für Charakterliches auf.

 

Überdies benutze ich alles zu Tode. Ich lasse eher reparieren als neu zu kaufen. Alle Nahrungsmittel werden verkocht statt teilweise weggeschmissen. Und so weiter. Auf diese Art kann ich mein Gewissen ein bisschen beruhigen und die anderen Vorzüge des Lebens in diesem Teil der Welt sogar auch genießen. Und spätestens, wenn man sich selbst so weit in Ordnung gebracht hat, dass man weiß, worauf man verzichten kann, sollte man eine gewisse Dankbarkeit für all das entwickeln, worauf man nicht verzichten muss. Und Offenheit und Mitgefühl für diejenigen empfinden, die von all dem nichts haben. 

 

Die Leute, die Flüchtlinge so empfangen wie das gestern in Clausnitz der Fall war, würde ich gern mit meinen Worten erreichen. Um Denkanstöße zu geben und Türen zu öffnen. Ein zu naiver Wunsch? Wahrscheinlich. Es war ja immer schon so. Wer beispielsweise während der Weltkriege flüchtete, wurde auch nicht von der breiten Bevölkerung mit offenen Armen aufgenommen. Sicher wird es auch so bleiben, weil so viele ihre eigene Verblendung nicht sehen und sich selbst zu selten in Frage stellen. Ein trauriges und erzürnendes Zeugnis für eine Spezies, die sich für ach so erhaben hält.



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