Lebenspfadwindungen und -findungen


Fluss
Fluss

Jeder verfügt über ein Gefängnis in seinem Kopf, in dem er mit Vorurteilen und Erwartungshaltungen gefüttert wird. Davon kann ich mich selbst natürlich nicht ausnehmen. Je nach persönlicher Definition gehöre ich aber zu den Glücklichen oder Unglücklichen, die die Gitterstäbe erkennen und den Versuch eines Ausbruchs wagen. Das ist kein Verdienst, den ich mir auf die Fahne schreiben kann, sondern ein Charakterzug. Mein Gefängnis bestand darin, dass ich im Sekretariat eines bekannten Autoherstellers gearbeitet habe und an die viel gelobte Karriere glaubte und ihr nachstellte. Immer hübsch verkleidet im Business-Kostüm, mit geschminkter Maske, stets frisch gestylten Haaren und den unvermeidlichen Stöckelschuhen. Wenn ich heute Fotos aus dieser Zeit sehe, frage ich mich oft, wer dieses fremde Mädchen ist.

 

Diese Arbeitsumgebung empfand ich schnell durch alle Hierarchien hindurch als ein unzumutbares Becken voller Haie, die nach links und rechts alles weg bissen, was in den Weg kam. Als ich irgendwann täglich mit Kopf- und Bauchschmerzen zur Arbeit ging, war für mich der Zeitpunkt erreicht, an dem ein Aufstieg auf der Karriereleiter das nicht mehr wert war. Ab da wollte ich mich eigentlich nurmehr der Kunst widmen - mein persönlicher Akt der Rebellion gegen die Vorstellung, ein Mensch sei nur wert, was er an Kohle nach Hause bringt.

 

Ich muss gestehen, dass ich mir vorgestellt hatte, es sei leichter aus Fotografie einen Lebensunterhalt zu machen. Hinzu kam, dass mein damaliger Ehemann die Welt nicht mehr verstand, als ich diesen Ausbruch wagte. Kurz darauf starb mein Vater, bald danach verließ mich der Ehemann. Das alles galt es erstmal zu verdauen und dafür brauchte ich eine Weile - in der ich nun alle möglichen Jobs annahm, um mich über Wasser zu halten. Sogar eine Umschulung habe ich mal begonnen. Noch heute, elf Jahre danach, kann ich nicht von meiner Kunst allein leben. Ich zweifle daran, dass es überhaupt je funktionieren wird. Also gehe ich, wenn nötig im Wechsel putzen, Brötchen verkaufen, Supermarkt-Regale auffüllen, bei Inventuren Waren zählen und dergleichen mehr. Und ich lebe mit deutlich weniger Geld als früher.

 

Natürlich käme ich mit so einem Lebenslauf nie wieder zurück in mein altes berufliches Umfeld. Man fragt mich oft, ob ich das nicht bereue und ob mir mein altes Leben nicht fehle. Inzwischen kann ich darauf mit voller Überzeugung antworten: nein, ich bereue es nicht. Trotz aller Misserfolge und aller Not mit Geld brenne ich noch immer für meine Ideen. Und ich habe nun die Zeit, sie nach und nach auch umzusetzen. Meine Überstunden und Nachtschichten mache ich jetzt nicht zu Gunsten eines großen Konzerns, sondern für das, was mir am Herzen liegt. Wäre ich froh, wenn meine Werke große öffentliche Aufmerksamkeit bekämen und der Rubel richtig rollte? Ja, natürlich.

 

Würde ich es auch ohne Aussicht auf den großen Durchbruch wieder so machen? Ja, natürlich auch. Inzwischen bekomme ich kleine Aufträge wie das Entwerfen von Kalendern und Postkartenserien mit meinen Fotos. Manchmal kauft jemand meine Bilder auf Leinwand. Ich hatte die Chance, meine Idee für eine Radioshow bei einem Bürgersender umzusetzen und sie mit zu moderieren - wobei sich herausstellte, dass ich dafür kein Talent besitze. Aber immerhin wird mein Konzept nach wie vor genutzt und die Show nach wie vor gesendet, nur eben ohne mich. 

 

Am meisten aber liegen mir meine Bücher am Herzen. Eines ist bereits publiziert worden, das zweite ist noch in Entstehung. Beides sind vorrangig Bildbände, enthalten aber auch ein wenig Text. Hierfür habe ich die altgeliebte Tätigkeit des Schreibens auch wieder aufgenommen. Beim ersten Buch geht es um Hannover, beim zweiten um das italienische Becken des Lago Maggiore. Bei beiden waren viele Menschen daran beteiligt, aus meiner Idee Realität werden zu lassen. Besonders dabei hervorzuheben sind die jeweiligen Teams, die zunächst ohne Bezahlung an dem Projekt mitarbeiten und später aus dem Verkauf entlohnt werden - somit dasselbe Risiko eingehen wie ich selbst, nämlich nichts daran zu verdienen. Man kann deren Beteiligung gar nicht hoch genug schätzen.

 

Aber selbst wenn sich nicht eine Ausgabe je verkaufen würde - die Herstellung eines solchen Buches ist für mich nie Zeitverschwendung. Die Tage als Schiff-Prinzessin am geliebten See verdanke ich zum Beispiel der Arbeit an dem zweiten Buch - und die möchte ich nicht missen. Ebenso wenig wie all die anderen Menschen, die mich an Orte brachten, die nicht einfach so jedem zugänglich sind.

 

Ich bekam eine persönliche Führung durch ein Heizkraftwerk. Man verschaffte mir Zugang zu den Dächern verschiedener Hochhäuser der Stadt Hannover. Ich stand neben den Glocken mehrerer Kirchtürme. War zu Gast in einer hochherrschaftlichen und original erhaltenen italienischen Villa aus dem 16ten Jahrhundert. Man ließ mich mit meiner Kamera allein durch ein exklusives Grand Hotel streifen. Ein Sportclub schenkte mir eine Tour auf dem vereinseigenen Motorboot. Ich lebte vier Tage in einer Künstlerkolonie und erlernte dort die Basis-Handgriffe einer für mich neuen Kunst. Man brachte mich auf Berggipfel und zu magischen verfallenen Plätzen.

 

Bei all dem gab es viel zu sehen und zu lernen, was mir entgangen wäre, wenn ich noch immer in meinem Büro säße. Ja, ich hätte dann mehr Geld. Aber die Zeit für solche Erlebnisse und deren Dokumentation hätte ich dann nicht - der kümmerliche Jahresurlaub, den ein regulärer Job einem zugesteht, reicht dafür nicht aus. 

 

Wenn ich nun auswandern möchte, muss ich sehr wahrscheinlich in Italien aber doch wieder eine Vollzeitstelle annehmen, bei der meine eigene Kreativität nicht im Vordergrund steht und bei der nicht so viel Zeit übrig bleibt. Das wird ein weiterer Ausbruch aus einer gewohnten Lage sein. Ich kann nur hoffen, dass es wieder den Preis wert sein wird. Einen solchen hat ja alles, und mit Zahlung kommt dummerweise nie eine Garantie auf Zufriedenheit. Trotzdem bin ich optimistisch, dass jeden Tag den geliebten See zu sehen mich für das Opfer entschädigen wird.

 

Und wie sang schon Herbert Grönemeyer, der alte Poet? In einem Lied, aus dem ich für mein eigenes Leben immer viel Inspiration beziehen kann: "Stillstand ist der Tod. Geh voran, bleibt alles anders."



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