Das große Werk des kleinen Herrn Motta


Büste des Ettore Motta
Büste des Ettore Motta

Meine Gast-Eltern sind die Schlüssel-Hüter der Türen und Tore zu so manch einem Ort, den man normalerweise nicht betreten darf. Sie haben mir auch mal erklärt, warum das so ist, aber leider habe ich es nicht wirklich verstanden. So oder so brachten sie mich aber an einige dieser Plätze. Unter anderem zeigten sie mir die ehemalige Ferienanlage des Herrn Motta in Suna. Nachdem ich bei unserem ersten Besuch dort unter Beweis gestellt hatte, dass ich mich solchen Ruinen gegenüber als respektvoll erweise und auch auf mich selbst aufpasse, überließen sie mir den Schlüssel zum Tor dieser Anlage. So konnte ich einen ganzen Tag dort verbringen und mir Zeit

lassen, alles ganz genau in Augenschein zu nehmen. 

 

Ettore Motta war in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts der Chef des damaligen italienischen Stromversorgers Edison-Volta. Laut meinem Gast-Vater, der ihm als Kind hin und wieder begegnete, war Herr Motta ein kleiner Mann, aber eine überaus elegante Erscheinung. Er war sehr reich und genoss diesen Umstand sichtlich. Leicht hedonistische Züge seien ihm zu eigen gewesen, er wusste wohl zu feiern wie kein Zweiter. 

 

Darüber hinaus besaß er zwei Dinge, über die Reiche häufig nicht verfügen. Es sah sich als einen Jedermann, der zufällig das Glück eines guten Erbes gehabt hatte und behandelte den armen Fischer auf dem See nicht einen Deut schlechter als den Anzug tragenden Geschäftsmann, mit dem er verhandeln musste. Außerdem fühlte er eine tiefe soziale Verantwortung gegenüber schlechter gestellten Menschen. Laut den Erzählungen Einheimischer stellte er beispielsweise neben den benötigten Fachleuten auch ungebildete und sehr arme Menschen ein und nahm es auf sich, sie angemessen für diese Arbeit auszubilden und zu versichern.

 

Ehemaliges Freizeithaus mit Kirche
Ehemaliges Freizeithaus mit Kirche

Er legte ebenfalls Wert darauf, dass es dem Nachwuchs seiner Mitarbeiter gut ging - und so ließ er vielerorts in Italien Anlagen errichten, in denen die Kinder ihre Ferien verbringen konnten. Besonderes Augenmerk legte er dabei auf Sicherheit, Bildung, gute Ernährung und nicht zuletzt Spaß. In einer Zeit, in der auch die Kleinsten oft nach der Schule auf dem Feld der Eltern arbeiteten und Erziehung noch fast automatisch mit Gewalt verbunden war, muss ein Urlaub in einer sogenannten Colonia Motta den Kindern wie das Paradies auf Erden erschienen sein. Die Kosten waren für die Eltern gering, dagegen der Aufwand für den Arbeitgeber umso gewaltiger. Ob er das aus einem Fond der Firma Edison-Volta oder privat finanzierte, vermag ich nicht zu sagen.

 

Zwischen 1922 und 1926, da sind sich offizielle Quellen nicht ganz einig, ließ er eine solche Colonia auch in Suna am Lago Maggiore bauen, was heute zu Verbania gehört. Zwischen 1978 und 1981, auch da gibt es keine genauere Angabe, wurde die Anlage geschlossen. Das riesige Terrain erfasst mehrere 10.000 Hektar und noch heute findet man hier drei Swimmingpools, einen ehemaligen Supermarkt, eine verfallene Kirche und sechs weitere Gebäude, die als Schlaf- und Freizeiträume dienten. In der weitläufigen Parkanlage, die in weiten Teilen nicht mehr zugänglich ist, schlummern unter dem wilden Wuchs der Pflanzen, die nun das Gelände beherrschen, diverse weitere Attraktionen. Tennis- und Bocciaplätze, eine große Sportanlage, ein Abenteuerspielplatz und noch so manches nicht mehr erkennbare Freizeitangebot.

 

Opel Kadett
Opel Kadett

Im ehemaligen Werkzeugraum der Gärtner findet sich neben einem antiken und noch funktionstüchtigen Rasenmäher, zwei Waschmaschinen und einigen riesigen bauchigen Weinflaschen noch ein völlig zerstörter Opel Kadett aus den 60er Jahren.

 

Alle Gebäude auf dem Gelände verfügen über Terrassen und große Fenster, die einst den Blick auf den See, den Monte Mottarone und das Naturschutzgebiet von Fondotoce frei gaben. Heute ist die Aussicht meist durch die Wipfel der vielen Bäume verborgen, die inzwischen davor in die Höhe ragen. Auf den ehemaligen Kies-Flächen vor den Häusern stehen die Gräser kniehoch. Und über allem liegt Stille. Also meistens. Es kann schon mal vorkommen, dass der Wind ein Fenster in seinen Rahmen knallt. Ab und an hört man auch das hohe Fiepen von Ratten oder das leise Rascheln von Schlangen, die sich im Gras winden. Und natürlich kann man das Konzert der vielen Vogelarten nicht überhören, die sich derweil hier angesiedelt haben. Es ist definitiv kein Ort für die Überängstlichen oder diejenigen, die an die Existenz von Geistern glauben.

 

Für die glücklichen anderen ist dies ein Platz, der widersprüchliche Gefühle in einem auslöst. Im Grunde ist es natürlich eine Schande, dass solch ein Juwel einfach so dem Untergang anheim gegeben wurde. Es gehört mit Leben und Lachen gefüllt. Andererseits lässt es das Herz eines Fotografen auch höher schlagen, hier allein zu sein und den Staub der Vergangenheit zu atmen. Verfall verfügt nämlich auch über Poesie - zumindest wenn man nicht direkt davon betroffen ist.

 

Kaum noch als solches erkennbares Klavier
Kaum noch als solches erkennbares Klavier

In einem der weiteren Gebäude stieß ich auf einen Theatersaal. Herr Motta legte nämlich auch Wert darauf, seinen Schützlingen kulturelle Einflüsse mit auf den Weg zu geben. So gab es in jedem Sommer eine Schauspielgruppe, der die Kinder sich anschließen konnten. Sie wählten aus der umfangreichen Bibliothek des Hauses ein Stück und führten es am Ende der Ferien auf der Abschiedsfeier vor. Da ein anständiges Theater auch ein Orchester braucht, stellte er ebenfalls zahlreiche Instrumente zur Verfügung und es gab Musikunterricht. Die Überreste des Klaviers sind noch da, wie man auf diesem Bild erkennen kann.

 

Es gab auch eine Krankenstation, in der noch medizinische Unterlagen, Spritzen und ein Schreibtisch zu finden waren. Die Direktion dagegen war leer geräumt worden. Hin und wieder lagen alte Kinderzeichnungen auf dem Boden. Es gab hier und da noch kaputte Möbel oder schimmelige Matratzen. In einem Raum waren zahlreiche Stücke von Kinderkleidung verstreut, deren ehemalige Besitzer längst alt geworden sind. Die außer Betrieb gesetzten Paternoster in allen Häusern wagte ich nicht zu betreten.

 

Weiterhin lief ich durch die ehemalige Großküche und die Wäscherei sowie durch die Kirche - deren Innenraum bis auf den Boden schlicht nicht mehr existierte. Auf der einen Seite kam man noch in die Sakristei. Auf der anderen Seite war der Aufgang zum Glockenturm. Leider musste ich feststellen, dass auch den zu betreten ein zu großes Risiko darstellte. Die Aussicht von dort oben hätte ich mir ja wirklich zu gern gegeben. Aber man kann eben nicht alles haben.

 

Speisesaal
Speisesaal

Ohnehin lag die Entdeckung des für mich schönsten Raumes noch vor mir. Von einer Galerie im Erdgeschoss eines der Gebäude sah ich staunend auf diesen Speisesaal hinab. Um hinein zu gelangen, musste ich durch den einigermaßen dunklen Keller. Von dort in diese lichtdurchflutete Halle zu treten, tat fast in den Augen weh, war aber absolut beeindruckend. Im Geiste begann ich direkt, mein Wohnzimmer hier einzurichten. Mit der angrenzenden Küche, dem großen Bad dahinter und der gigantischen Terrasse davor konnte ich mir das mit Leichtigkeit als mein künftiges Domizil vorstellen. Leider kam die Realistin in mir auch durch und merkte an, wie hoch die Heizkosten im Winter wohl wären. Da war es mit dem schönen Traum auch sofort vorbei.

 

Je mehr ich von diesem Komplex sah umso neugieriger wurde ich auf den zauberhaften Herrn Motta. Im Geiste sah ich ihn als eine Art Mister Fezziwig, den freundlichen Lehrherren von Ebenzer Scrooge in "Eine Weihnachtsgeschichte" von Charles Dickens. Ich begann mit der Recherche und musste bald feststellen, dass es nur sehr wenige öffentliche Einträge zu Ettore Motta gibt. Sie alle verweisen ausschließlich auf die Ferienkolonien. Es gibt keine Quelle für eine ausführliche Biographie, keine öffentlichen Ehrungen oder ähnliches. Aufgrund der hohen Position, die der Herr bekleidete, erschien mir das seltsam. Also ging ich dahin, wo man zwar nicht immer hunderprozentige Fakten, aber doch den Kern der Wahrheit bekommt - zu den alten Einheimischen.

 

Alles bisher Gesagte beruht auf Tatsachen und ist nachprüfbar. Was nun folgt, ist zum größten Teil Hörensagen und ich kann mich nicht für den Wahrheitsgehalt verbürgen. Angeblich verlor Herr Motta einen großen Teil seines Vermögens als die damalige italienische Regierung die Stromversorgung Anfang der 60er Jahre verstaatlichte. Da seine Ferienangebote ursprünglich für die Mitarbeiter waren, die er nun nicht mehr hatte, disponierte er um und machte seine Anlagen nun für private Urlaubsgäste zugänglich. Dabei blieb er seiner sozialen Ader treu und nahm nun die Kinder armer Eltern zu günstigen Preisen in seine Anlagen auf. Spätestens ab da stand er auch mit seinem eigenen Vermögen dafür ein. 

 

Blick auf eine der vielen Terrassen
Blick auf eine der vielen Terrassen

Die erste seiner geliebten Kolonien musste er bereits 1962 schließen. Ich weiß nicht, wie viele es insgesamt waren und an wie vielen er festhielt. An der Anlage in Suna hat er sich wohl aber am Längsten fest gebissen. Die betrieb er immerhin noch bis mindestens zum Ende der 70er. Dann verlor er durch eine Fehlinvestition den Rest seines Vermögens und erlebte in hohem Alter noch einen unvergleichlichen gesellschaftlichen Fall. Die Schickeria seiner Zeit befand ihn sowieso für schrullig. Da er nun obendrein arm war, wandten sich die Reichen unter seinen Bekannten schleunigst von ihm ab.

 

Man ist sich nicht einig über das Jahr, in dem die letzte Abschiedsfeier mit Feriengästen in der letzten Colonia stattfand. Aber ausnahmslos alle Zeitzeugen berichten übereinstimmend, dass Herr Motta untröstlich war und nur unter Tränen anschließend den Kaufvertrag für den nachfolgenden Besitzer unterschrieb. Er sah den Beginn des Verfalls seines erhaltenswerten Komplexes noch mit eigenen Augen, da dem neuen Besitzer recht schnell das Geld ausging. Man sagt, am Ende seines Lebens wurde er von den ehemaligen Angestellten durchgebracht, von denen viele die Chance nicht vergessen hatten, die er einst ihnen gab. Er habe nach wenigen Jahren seinen Frieden mit sich und seiner Lage finden können, wurde mir erzählt. Angeblich besann er sich auf die Erinnerung daran, wie viel Freude er zu schenken gehabt hatte und freute sich mit einem gewissen Trotz darüber, das bis zum bitteren Ende getan zu haben. In der Tatsache, dass nun andere für ihn sorgten, sah er Anerkennung für seine vorangegangenen Leistungen. Er starb friedlich mit weit über 90 Jahren im Schlaf. 

 

Warum dieser bemerkenswerte Mann nur am Rande der Historie dieser Region Erwähnung findet, kann ich nicht sagen. Auf jeden Fall droht seine Geschichte in Vergessenheit zu geraten. Allein deshalb war sie für mich erzählenswert.




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